isyde entwickelt Software zur Simulation von Farbfehlsichtigkeiten
Mehlbergen. Viele Menschen kennen das: An der Ampel müssen sie vor allem auf die Helligkeit des Lichts achten - und weniger auf die Farbe. Eine rote Markierung oder ein grüner Punkt beispielsweise auf Verkehrsschildern sind nur auf den zweiten Blick zu erkennen. Wirklich schwierig wird Farb-Fehlsichtigkeit aber bei der Arbeit am Bildschirm: Dort sind farbige Markierungen in der Regel nicht allzu groß; die Programmierer setzen auf ihre Signalwirkung. Wenn man die aber nicht als solche wahrnehmen kann, wird der Bildschirm zum Suchbild. Abhilfe schafft ein Programm, das Normalsichtige quasi mit den Augen eines Farb-Fehlsichtigen sehen lässt. Entwickelt wurde das Programm nicht etwa im Silicon Valley, sondern von einem Unternehmen aus dem Landkreis Nienburg.
Anna Scholz ist – bislang - kein preisgekröntes Computer-Genie, sondern Auszubildende bei isyde in Mehlbergen. Das kleine Unternehmen hat es allerdings in sich: Die Mehlbergener Softwareschmiede genießt nationalen Ruf. Zu den Kunden gehören Bundesbehörden wie die Bundesnetzagentur, Ministerien wie das Bundesverteidigungsministerium oder auch die Staatskanzlei von Nordrhein-Westfalen. Für sie entwickelt isyde Software, die genau auf die jeweiligen Anforderungen zugeschnitten ist. Was Anna Scholz präsentiert, hat sie selbst aus eigenem Antrieb geschaffen, „als Ausbildungsprojekt“, wie isyde-Prokurist Thorben Dierking sagt.
Auf der Projektionsfläche erscheinen Landschaftsaufnahmen, Gegenstände oder auch Arbeitsoberflächen von Computerprogrammen. Die junge Frau bewegt eine Art Fenster über das jeweilige Bild: Teile der dahinter liegenden Abbildung verlieren ihre Farbintensität, werden sogar grau. „So“, sagt Anna Scholz, „würde das Bild von jemandem gesehen werden, der beispielsweise unter Rot-Grün-Blindheit leidet.“ Das ist beeindruckend, wenn sie eine grüne Wiese mit blauem Himmel zeigt, die sich plötzlich beinahe in eine Art mattes schwarz-weiß-Bild verwandelt. Anstrengend wird es aber, als Anna Scholz die Benutzeroberfläche eines Datenverwaltungsprogramms aufruft, durch das der Nutzer üblicherweise mittels farbiger Markierungen geführt wird. Legt Anna Scholz ihr „Fehlsicht-Fenster“ darüber, sieht ein Normalsichtiger die Welt quasi mit anderen Augen: Sich jetzt in dem eigentlich simplen Datenprogramm zurecht zu finden, wäre eine Quälerei.
„Es gibt drei Arten so genannter Zapfen im Auge, die Lichtwellen in bestimmter Länge als rot, grün und blau interpretieren und an das Gehirn weitermelden“, sagt die Auszubildende. „Wenn einer oder mehrere dieser Zapfen nicht funktionieren, kann der Mensch die Farbe oder Mischfarben nicht sehen. Echte Farbblindheit, bei der jemand schlicht gar keine Farben sehen kann, ist aber sehr selten.“ Die angehende Fachinformatikerin Anwendungsentwicklung ist selbst normalsichtig; sie weiß aber, dass rund fünf Prozent der Menschen Schwierigkeiten haben, alle Farben zu erkennen. „Barrierefreiheit ist ja ein wichtiges Thema, gerade auch im Internet und bei der Arbeit mit Computern. Aber wie soll ein Programmierer so programmieren, dass er einem Farb-Fehlsichtigen helfen kann? Er sieht ja alle Farben!“ Mit ihrem Tool sieht ein normalsichtiger Programmierer buchstäblich auf einen Blick, wo er beispielsweise ein Symbol einbauen müsste, wenn er ein barrierefreies Programm erstellen will.
„Eines Tages kam Frau Scholz zu uns und sagte, sie wolle so ein Programm entwickeln“, erzählt Thorben Dierking. „Tja, dachten wir – warum nicht? Das wäre doch ein schönes Projekt im Rahmen der Ausbildung. Aber was da jetzt bei rauskam, hat uns auch überrascht!“ Denn das Ganze war nicht so simpel, wie der Laie vielleicht denkt: „Es ist nicht damit getan, einfach einen Farbkanal aus dem Bild zu ziehen“, sagt Anna Scholz. „Denn was man sieht, ist nicht nur eine Frage der Farbe, sondern auch von etwas wie subjektiver Helligkeit, die von dem ausgelöst wird, was das Auge aus den empfangenen Reizen ans Gehirn meldet. Wenn man also nur beispielsweise das Rot aus dem Bild nimmt, entspricht das nicht dem Sehen eines Menschen mit Farbschwäche.“ Zwei Jahre lang tüftelte Anna Scholz parallel zu ihrer Ausbildung an dem Programm, orientierte sich an wissenschaftlichen Studien über Farbschwäche aus den USA und übersetzte deren Vektor- und Funktionsberechnungen in die „Sprache“ des Computers. Nun ist das Programm fertig.
isyde beschäftigt sich üblicherweise mit anderen Programmen. Die Chefs des Unternehmens sind gleichwohl begeistert von ihrer Auszubildenden. „Anna Scholz ist ein echter Glücksfall für uns“, lobt Thorben Dierking die junge Frau, ihr Talent und ihren Fleiß. „Wir haben ihr Programm unter eyesyde.de kostenlos ins Netz gestellt; außerdem gibt es das Tool als App für alle Smartphones mit android-Betriebssystem.“ Abgesehen davon, dass es schlicht interessant sei, sich das einmal im Wortsinn anzugucken, „können wir damit vielleicht einen echten Beitrag zur Barrierefreiheit leisten“, hofft Dierking. „Jeder Programmierer kann damit direkt überprüfen, ob seine Arbeit für einen Menschen mit Farbschwäche gut zu verwenden ist.“